Der spärliche Lichtkegel der Petroleumlampe reichte gerade einmal bis zum Rand der Tischplatte. Yeghen versuchte mit seinen kurzsichtigen Augen das Gesicht seiner Mutter zu erfassen, das im Schatten lag; nur ihre alten, vertrockneten Hände, mit denen sie gerade ein Herrenhemd stopfte, konnte er erkennen: zweifellos eine Arbeit für eine gutsituierte Familie aus der Stadt. Die Erbärmlichkeit dieser undankbaren Arbeit empörte ihn wie eine persönliche Beleidigung; um so mehr, weil sie seine Mutter traurig machte. Mit welcher Gemessenheit, welcher Ernsthaftigkeit sie doch ihre Bewegungen ausführte! Als würde es darum gehen, eine geheimnisvolle und bessere Welt zu erschaffen. Durch diese einfache Arbeit schien sie dem Mythos von einer ehrbaren Armut Glaubwürdigkeit verleihen zu wollen. Was für ein Schwindel!

Yeghen grinste hämisch. Was trieb ihn an diesem Abend dazu, das Gesicht seiner Mutter zu betrachten? Eine unsinnige und krankhafte Idee. Eine ganze Zeit schon versuchte er, jenseits des Alters und der Falten im Gesicht seiner Mutter eine Ähnlichkeit mit seinem eigenen Gesicht zu entdecken. Er öffnete seine Augen so weit wie möglich, suchte den Schatten hinter dem Lichtkegel über dem Tisch ab; nichts, das Gesicht seiner Mutter blieb unfaßbar. Er bemühte sein Gedächtnis, versuchte sich an ihre Gesichtszüge zu erinnern; es gelang ihm nicht, sich ein zuverlässiges Bild zu machen. Ein schwarzes Loch. Als hätte er sie während all der Jahre niemals angesehen. Diese totale Lücke in seinem Gedächtnis machte ihn wütend. Er wollte sie fragen, ob sie sich nicht ein wenig ins Licht Vorbeugen könne, hielt sich aber zurück. Er wollte sie nicht unnötig stören. Er ließ ihr gegenüber sogar eine für ihn ungewöhnliche Großzügigkeit walten: »Sie muß sehr schön gewesen sein. Ich ähnle wohl eher meinem Vater.« An seinen Vater konnte er sich ebenfalls nicht erinnern. Das war doch merkwürdig! Jetzt kam es ihm so vor, als hätte er diese Menschen, die ihn einst gezeugt hatten und mit denen er viele Jahre zusammengelebt hatte, niemals aus der Nähe gesehen.

Aber warum sorgte er sich an diesem Abend auch so sehr um seine Häßlichkeit? Normalerweise betrachtete er sich nie im Spiegel. Aus Furcht, wie er sich eingestand. »Sollte ich mich etwa vor mir selbst fürchten?« Wieder grinste er hämisch. Diese Dreckskerle! Mit welcher Unnachsichtigkeit sie ihn immer noch in den Tageszeitungen und literarischen Zeitschriften der Hauptstadt verhöhnten. Er war zum Gespött des gesamten kultivierten Orients geworden. Diese niederträchtigen Journalisten ließen keine Gelegenheit aus, ihn in die Schußlinie zu nehmen; sie mußten eine Sonderprämie dafür erhalten, wenn sie in ihren boshaften Artikeln seine Häßlichkeit hervorhoben. Und erst dieser Bastard von einem Karikaturisten, der eine Zeichnung von ihm mit der Unterschrift: »Kondensierte Häßlichkeit« veröffentlicht hatte. Yeghen fand diese Angriffe äußerst schwach, sie entsprachen allenfalls dem Niveau kleiner Kinder. Glaubten diese Dummköpfe wirklich, ihn mit solchen Albernheiten aus der Fassung bringen zu können? Da kannten sie ihn aber schlecht; seine Häßlichkeit war vielmehr ein Geschenk der Natur.

Das mochte zwar fast überall zur Geltung kommen, nicht aber vor einem Strafrichter. Das war der schwache Punkt. Er war einfach nicht zu verteidigen. Selbst seine armen Rechtsanwälte - amtlich bestellte Pflichtverteidiger - verloren das bißchen Würde, das sie besaßen, verstummten beinahe vor Ergriffenheit. Ohne ihn jemals anzusehen, stotterten sie irgendein Plädoyer daher. Was für eine Bande von Kastraten, diese Rechtsanwälte! Er verachtete sie mehr als alles andere. Mit Ausnahme eines einzigen jedoch, der ihm unvergeßlich blieb. Ihm - einem Mann von unvergleichlichem Mut, oder

einfach nur einem Komiker - war es gelungen, von seinem Gesicht zu sprechen, als sei es das Gesicht des verkannten Genies selbst. Eine ganze Stunde lang. Der Richter hatte nicht gelacht; er schien nur beklommen, unfähig zu verstehen. Die Rede des Anwalts rief verblüfftes und ungläubiges Schweigen hervor. Der Richter traute seinen Ohren nicht; er blickte erstaunt um sich, als sei er soeben aus einem Traum erwacht. Schließlich kam er wieder zu sich und verkündete das Urteil.

Die Strafe fiel diesmal härter aus als üblich: acht Monate. Aber Yeghen war glücklich; er hatte verteufelt viel Spaß gehabt.

Für jemanden mit seiner Einstellung, der sich allen äußeren Gegebenheiten anzupassen vermochte, stellten diese Gefängnisaufenthalte keinesfalls etwas Unangenehmes dar. Nach den unaufhörlichen Anstrengungen seines nomadenhaften Lebens waren sie eher eine Art Erholung. Bei jeder Rückkehr ins Gefängnis nahm er dort seinen angestammten Posten als Buchhalter in der Gefängnisverwaltung ein. Diese Tätigkeit, auf die er ein stillschweigendes Vorrecht hatte, gewährte ihm eine gewisse Bewegungsfreiheit. Yeghen verhielt sich dort wie ein großer Verwaltungsfachmann. Auf höherer Ebene wußte man seine Fähigkeiten durchaus zu schätzen; er erhielt dafür Belobigungen. All das war zwar grotesk, aber Yeghen amüsierte sich dabei köstlich. Bei seinen Haftantritten brach jedesmal in dem verhaßten Gebäude, das dazu diente, die Insassen zu Tode zu langweilen, ein freudiges Durcheinander aus. Seine Späße, seine komischen Züge begeisterten die Mitgefangenen, von denen die meisten einen Hang zur Traurigkeit besaßen, der sich aus ihren Lebensumständen ergab. Selbst das Wachpersonal verlor seine sonst übliche Gehässigkeit und ließ eine gewisse Nachsicht walten. Der Gefängnisdirektor - ein leidenschaftlicher Bewunderer seiner Gedichte - unterhielt sich gern mit ihm; in seinem Arbeitszimmer empfing er ihn mit der einem Minister gebührenden Zuvorkommenheit. Auf diese Weise setzte Yeghen im Gefängnis das Leben fort, das er draußen führte. In einem Punkt ging es ihm sogar viel besser; er hatte keine Geldsorgen. Er hatte ein Bett, bekam zu essen, befand sich unter Häftlingen, von denen einer ungewöhnlicher war als der andere und die vor köstlichen Geschichten, deren Komik nichts zu wünschen übrig ließ, nur so sprühten. Freiheit war ein abstrakter Begriff und ein bürgerliches Vorurteil. Man hätte Yeghen niemals einreden können, er sei nicht frei. Auch über die Versorgung mit Drogen konnte er sich nicht beklagen. Diesseits der Gefängnismauern zirkulierte das Haschisch genauso frei wie in der Stadt; für Geld konnte man es sich auf tausenderlei Arten beschaffen.

Sein Ruf als Dichter hatte ihm bei seinen Mitgefangenen, die weder lesen noch schreiben konnten, enormes Ansehen verschafft. Er war es, der - was für ein abscheuliches Simulakrum - die Häftlinge untereinander traute. Seine Häßlichkeit bewahrte ihn bei alledem vor einer echten Gefahr: Man hätte blind sein müssen, um mit ihm sexuell verkehren zu wollen. Glücklicherweise gab es im Gefängnis keine Blinden.

Noch einmal wollte er dem Geheimnis dieses Gesichts auf die Spur kommen, das im Schatten verborgen blieb. Alles verschwamm vor seinen kurzsichtigen Augen. Sollte er die Lampe wegstellen ? Der Lichtkegel schuf zwischen ihnen so etwas wie eine undurchdringbare Wüste. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her und wimmerte wie ein krankes Kind. Auf der anderen Seite des Tisches bewegte sich nichts; sie zuckte noch nicht einmal.

»Mutter!« entfuhr es ihm beinahe unwillkürlich.

Sie blieb stumm, als könne dieser Ruf - der eher einem Schrei glich - sie in dieser Welt des Leidens und der Resignation, in der sie versunken war, nicht erreichen. Sie war immer noch mit dem Flicken des Hemdes beschäftigt; arme alte Frau, die einer einfachen, aber ehrenwerten Arbeit nachging. Ihre ganze Haltung schien beweisen zu wollen, daß es ehrbare Berufe gibt. Sie gab ein lebendes Beispiel dafür ab; er mußte sie sich nur zum Vorbild nehmen. Die Art, in der sie ihm eine moralische Lehrstunde erteilte, machte ihn wirklich wütend. Für wen hielt sie ihn eigentlich?

»Mutter!«

Ihre Finger hielten plötzlich in der Bewegung inne, und die Nadel blieb zur Hälfte im Hemd stecken. Eine endlose Stille breitete sich im Zimmer aus. Die Mutter schwieg immer noch; man hätte meinen können, sie fürchtete, mit ihren Worten einen Zauber zu brechen. Schließlich gab sie ihr Schweigen auf und fragte vollkommen resigniert:

»Was ist denn?«

»Sag mal, Mutter, war ich als Kind schön?«

Was für eine boshafte Frage! Er wußte, daß er sie damit in schwerste Gewissenskonflikte brachte. Was würde sie tun? Zu weinen anfangen oder antworten. Yeghen konnte nur ahnen, welche panische Angst sie ergriffen haben mußte. Immer noch sah er nur ihre vertrockneten Hände, die jetzt auf der Tischkante lagen. Er wollte sie noch stärker in Verlegenheit bringen und beugte sein Gesicht nach vorn ins Licht der Lampe, damit sie diese Maske, diese Verhöhnung des menschlichen Antlitzes, besser sehen konnte. Jetzt gab es keine Ausflucht mehr für sie; er hatte sie in der Hand. Sein schelmisches Lächeln, das seine langen, verfaulten Zähne erkennen ließ, verlieh seinem Gesicht ein monströses Aussehen.

Nichts an diesem Gesicht hätte das Herz einer Mutter erfreuen können.

Sie schien aus einer tausendjährigen Betäubung zu erwachen, betrachtete ihren Sohn liebevoll und mitleidig. Ein fünfunddreißigjähriger Mann, der genauso verloren im Leben stand wie ein Kind. Noch unbedarfter, noch verletzlicher als ein Kind. Einen Augenblick lang verharrte sie unschlüssig, und Yeghen kostete diesen Moment aus. »Sie muß sich furchtbar zusammennehmen«, dachte er. Im Grunde bestand für ihn kein Zweifel daran, was sie antworten würde.

»Also, Mutter?«

»Ja, du warst schön«, antwortete sie.

»Das ist unmöglich! Wie hätte ich mich denn so sehr verändern können?«

»Du hast dich nicht verändert«, sagte die Mutter.

Sie mußte verrückt sein. Yeghen verspürte das Bedürfnis, sich im Spiegel zu betrachten. Einen Moment lang glaubte er an ein Wunder, durch das sich sein Gesicht verändert hatte. Aber nein, es war alles viel einfacher. Er hätte wissen müssen, daß ein Affe in den Augen seiner Mutter die Anmut einer Gazelle besaß. Es hatte keinen Wert, sich Illusionen hinzugeben. Es war noch nicht einmal Mitleid; vielmehr eine Antwort, die dem mütterlichen Empfinden entsprang. Ihm schien, als sei sie mit ihrer Antwort zufrieden und würde ernsthaft an das glauben, was sie sagte.

»Und mein Vater?«

»Was soll mit deinem Vater gewesen sein?«

»War er schön?«

»Dein Vater war ein ehrbarer Mann.«

»Du machst Scherze!«

Yeghen stampfte vor Freude mit den Füßen. Sein Vater! Wie oft hatte sie ihm nicht schon gesagt, daß sein Vater ein ehrbarer Mann gewesen sei. Und doch waren sie durch seine Schuld ins Elend gestürzt worden. Er war der Erbe einer großen Familie von Landbesitzern und hatte sein riesiges Vermögen beim Spiel und bei wüsten Gelagen durchgebracht. Bei seinem Tod hinterließ er nichts als Schulden. Yeghen war damals noch sehr jung; vom Tod seines Vaters und vom finanziellen Ruin hatte er kaum etwas mitbekommen. Nur durch die überall zirkulierenden Gerüchte erfuhr er von den unglaublichen Eskapaden seines Vaters, einem Mann, der mindestens drei Frauen gleichzeitig im Bett haben mußte, um sich wohl zu fühlen. Ein echter orientalischer Potentat.

Seine Mutter sprach niemals mit ihm darüber, sie hielt dieses Thema für anstößig: Seinen Mann verurteilte man nicht. Sie mußte der Meinung sein, daß es ein unvermeidliches und erstrebenswertes Los sei, wenn man durch seinen Mann Leid zugefügt bekommt. Yeghen hatte aus ihrem Munde niemals ein vorwurfsvolles Wort über den Verstorbenen gehört; sie hielt an ihrem Glauben fest, er sei ein ehrbarer Mann gewesen. »Reichtum entschuldigt alles«, dachte er. »Meine Torheiten mißbilligt sie, weil ihnen der Makel des Elends anhaftet.« Wenn man arm ist, hat man kein Recht auf schlechtes Betragen. Dieser Grundsatz war für sie die einzige Wahrheit, die es auf der Welt gab.

Um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, ging sie jetzt dieser demütigenden Beschäftigung nach: Sie besserte die Wäsche wohlhabender Familien aus, die sich ihres Unglücks erbarmten. All die Jahre erbitterter Kämpfe mit diesem nichtsnutzigen Sohn, dem ein schreckliches Schicksal beschieden war, konnten ihre Meinung über das unmögliche Verhalten ihres Mannes in keiner Weise verändern. War er nicht ein reicher und angesehener Mann gewesen? Das entschuldigte alles. Eine solche Treue zur besitzenden Klasse war für Yeghen einfach unvorstellbar. Nur diese Treue hielt sie noch am Leben. Das Andenken an den Verstorbenen hatte keinen anderen Zweck, als diesen Respekt, der sich dem Reichtum verdankte, aufrechtzuerhalten.

In diesem Raum im Souterrain mit seinem schadhaften Fliesenboden war es so feucht, daß das Wasser an den Wänden herunterlief. Trotz des langsamen Verfalls der Möbel, trotz des heimtückischen und fortschreitenden Elends stand immer noch der üble Geruch bürgerlicher Sicherheit im Raum. Unter den ins Dunkel getauchten, bunt zusammen gewürfelten Gegenständen stach eine an der Wand thronende, stattliche und schön geschnitzte Holzanrichte hervor, die sie vor dem Verfall bewahrt hatte. Erst die Anrichte war es, die im Zimmer diese dubiose Atmosphäre schuf, die Yeghen so sehr bedrückte. Er hätte lieber auf der Straße geschlafen, als in dieser elenden, Rechtschaffenheit ausdünstenden Behausung zu wohnen! Ihm schien, als würde die Anrichte - eine sich in der Dunkelheit abzeichnende unförmige Masse - ihn mit ihrer ganzen Größe bedrohen. Yeghen schauderte. Er fror, aber außer dem kleinen Spirituskocher, auf dem die Suppe köchelte, gab es nichts, um diese eisige Höhle zu beheizen. Niedergeschlagenheit befiel ihn; genau davor fürchtete er sich am meisten, wenn er seine Mutter besuchte. Sie beherrschte die Kunst, Niedergeschlagenheit zu erzeugen; sie spann die Fäden des Unglücks wie eine Spinne ihr Netz.

Yeghen schüttelte sich, wie um die Kälte zu vertreiben. Er spürte, daß etwas an seinem Bein entlangstrich und hörte ein leises Schnurren: die Katze. Wo hatte die sich denn die ganze Zeit versteckt? Er beugte sich nach unten, um nach ihr zu greifen, setzte sie auf seinen Schoß und begann ihr Fell zu streicheln. Das kleine Tier schnurrte und schaute ihn dabei an, als erwarte es etwas von ihm. Yeghen hatte sich einmal einen Spaß daraus gemacht, ihr ein kleines Kügelchen Haschisch zu geben, und seitdem hatte er ihr immer mal wieder eines gegeben, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Sicher war dies die einzige drogenabhängige Katze auf der Welt. Sie schien Gefallen an dieser Art der Nascherei gefunden zu haben; sie wurde langsam unruhig und wollte zu kratzen anfangen. Yeghen befand sich in einer schwierigen Situation; er hatte nur noch ein kleines Stückchen Haschisch übrig, und er würde es bestimmt nicht mit der Katze teilen. Jeder Spaß hatte schließlich seine Grenzen. Aber wie sollte man es ihr verständlich machen?

Es gelang ihm, sich die Katze vom Halse zu schaffen, und er betrachtete erneut seine Mutter. Sie war wieder mit ihrer Arbeit beschäftigt, gleichgültig gegenüber allem, so hätte man meinen können, was nicht zu ihrem Traum gehörte. Sie muß davon geträumt haben, zusammen mit ihrem Sohn - einem aufrichtigen und arbeitsamen Sohn - ein friedliches, ehrbares und gesetzesfürchtiges Leben zu führen. Yeghen ahnte, daß sie diesen Traum hegte, und er konnte sich sogar den genauen Ablauf der Bilder vorstellen. Plötzlich dachte er an seine jüngste Errungenschaft, an diesen wunderbaren Einfall seines erfinderischen Geistes. Wenn sie geahnt hätte, daß er jetzt sogar schon Geld für ihr Begräbnis erbettelte! Er hatte nicht übel Lust, es ihr zu sagen, nur um zu sehen, wie sie reagierte. Würde sie ihn wohl verfluchen? Von diesem Vorrecht hatte sie noch nie Gebrauch gemacht. Die Verfluchung durch eine. Mutter! Yeghen gelang es nicht, sein schallendes Gelächter zu unterdrücken.

Sie hörte abrupt mit dem Nähen auf, schien erstaunt und erschrocken zu sein.

»Wie kannst du nur lachen, mein Sohn!«

»Würdest du mich lieber weinen sehen?«

»Schämst du dich nicht, dich über mein Elend lustig zu machen?

»Aber nicht doch, Mutter. Mir kam nur plötzlich so ein Gedanke.«

»Ich verstehe dich nicht«, sagte sie verbittert. »Ich werde dich nie verstehen. Wie kannst du nur in dieser elenden Behausung lachen!«

Das war es vor allem, was sie ihm nicht verzeihen konnte: seine Leichtfertigkeit angesichts des Elends. Es hatte niemals den Anschein, als würde er das Elend ernst nehmen. Sie hätte sich gewünscht, ihn einmal beschämt und verzweifelt zu sehen, zu erleben, wie er düsteren Gedanken nachhing. Das Elend war ein heiliger Zustand, wie konnte er darüber lachen?

Jedenfalls war es höchste Zeit für ihn, sich davonzumachen; die Atmosphäre wurde langsam unerträglich. Er kauerte sich auf seinem Stuhl zusammen, wich weiter in den Schatten zurück und grinste hämisch. Das Schwierigste blieb noch zu tun.

»Mutter!« sagte er mit weinerlicher Stimme.

Wenn sie schon nicht sehen wollte, wie er lachte, gut, dann mußte er eben heulen!

»Was willst du denn noch?«

»Hättest du nicht fünf Piaster für mich, Mutter?«

Sie seufzte auf wie ein gehetztes Tier.

»Schon wieder! Wann wirst du endlich einsehen, daß ich arm bin?«

»Das weiß ich, Mutter!«

»Nein, es sieht nicht so aus, als wüßtest du es.«

»Wüßte ich es nicht, hätte ich dich um viel mehr gebeten.«

»Du Zyniker! Mein Gott! Und dein Vater war ein so ehrbarer Mann!«

Das mußte ja so kommen. Yeghen kannte dieses Ritual; er würde sich jetzt die ganze Geschichte anhören und bis zum bitteren Ende verhandeln müssen.

»Laß meinen Vater aus dem Spiel. Ich brauche das Geld.«

»Ich habe nur das Geld für die Miete. Wenn du Hunger hast, kannst du die Linsensuppe essen.«

Diese Suppe! Niemals. Eher würde er verhungern. Diese Suppe, die seine Mutter gekocht hatte, war der schlimmste Schlag gegen seinen Optimismus; sie roch nach guter Absicht und ehrbarem Elend. Er würde sie niemals hinunterbringen. Jede Erniedrigung, aber nicht diese. Außerdem machte er sich wenig aus Essen.

»Das ist doch nicht genießbar«, sagte er.

»Leider kann ich dir kein Hühnchen anbieten.«

»Darum geht es überhaupt nicht, Mutter. Ich habe einfach keinen Hunger. «

Sie wußte genau, daß er Drogen nahm, aber sie verbat es sich, diesbezüglich auch nur die kleinste Anspielung zu machen; sie sprach lieber über belanglose Dinge mit ihm, wie beispielsweise über diese Linsensuppe, die er unbedingt essen sollte. Yeghen ahnte, was wirklich in ihr vorging; sie bildete sich ein, daß er das Geld brauchte, um sich Drogen zu kaufen. Dabei erinnerte er sich an einen häßlichen Vorfall, der sich gerade an diesem Nachmittag ereignet hatte, und er murmelte wütend vor sich hin. Ein Polizist hatte ihm auf offener Straße unter dem fadenscheinigen Vorwand, ihn durchsuchen zu müssen, ein großes Stück Haschisch abgenommen. Diese Straßenräuber-Methoden machten ihn rasend, um so mehr, als er nichts dagegen tun konnte. Diese verdammte Polizistenbrut. All das Haschisch, das sie überall plünderten, um es angeblich im Fluß zu versenken. Nicht dumm. Sie verkauften es mit Sicherheit auf dem Markt, und zwar noch teurer als die Drogenhändler.

Es stand außer Zweifel, daß ein Mensch neben der Droge und dem Essen auch etwas Geld in der Tasche haben mußte. Sein Schmarotzer-und Bettlerdasein hinderte Yeghen nicht daran, verschwenderisch zu sein; ganz im Gegenteil. Zweifellos hatte er diesen Hang zu üppigen Ausgaben von seinem Vater geerbt. Er leistete sich gern den Luxus, für andere, noch Unglücklichere als er, zu zahlen und beispielsweise Gohar Finanziell unter die Arme zu greifen. Er wußte, daß Gohar niemals Geld besaß und auch nie darum bat, nicht aus Stolz, sondern weil ihm materielle Dinge einfach gleichgültig waren. Yeghen machte es sich zur Pflicht, ihm im Rahmen seiner bescheidenen Möglichkeiten zu helfen. Er war der einzige Mensch, den er kannte und der noch niemals Anstoß an seiner moralischen oder physischen Häßlichkeit genommen hatte. Der einzige Mensch, mit dem er vollkommen übereinstimmte. Gohar war weder ein Reformer noch ein Moralist; er nahm die Menschen so, wie sie waren. Diese charakterliche Besonderheit hatte Yeghen noch bei niemand sonst erlebt; die meisten Leute wollten einem ständig Ratschläge erteilen, genau wie seine Mutter. Im Grunde unterschied sich seine Mutter in dieser Hinsicht nicht vom Großteil der Menschheit.

Er fürchtete sich davor, Mitleid zu haben, und lachte hämisch. Nein, er war ihr gegenüber nicht gemein. Sie schlug sich auf ihre Weise durch und war ihm sogar in manchen Dingen überlegen. Keine Macht der Welt hätte sie in ihrer Hartnäckigkeit, mit der sie am Unglück hing, zu erschüttern vermocht. Sie hatte sich in ihrer Traurigkeit eingerichtet und verstand nicht, daß man angesichts des bittersten Elends noch lachen konnte.

Er wußte, daß sie schließlich nachgeben und ihm das Geld geben würde. Sie ließ sich nur deshalb so lange bitten, damit er möglichst lange in ihrer Nähe blieb: sie glaubte an ihre Vorbildfunktion. All diese Liebe, diese einnehmende Zärtlichkeit diente nur dazu, daß er sich den Erfordernissen des Elends beugte. Arme Frau! Sie wußte nicht, daß sie ein Ungeheuer an Optimismus geboren hatte.

Jetzt reichte es; er hatte ihr genügend Zeit geopfert.

»Gibst du mir jetzt das Geld?«

Von Mutlosigkeit gepackt, verharrte sie lange regungslos. Sie würde ihn also ein weiteres Mal verlieren. Dieser erbärmliche und mißratene Sohn war trotz alledem ihre einzige Verbindung zu den Menschen; sie würde ihn wohl niemals aufhalten, ihn niemals auf den rechten Weg zurückführen können. Diese vom Teufel besessene, unbegreifliche Kreatur glitt ihr immer wieder aus den Fingern. Das einzige, was sie von ihm zurückbehalten würde, war sein Lachen; dieses Lachen, das eine Verhöhnung ihres Elends darstellte. Ihr blieb diese Gleichgültigkeit unverständlich, die er dem entgegenbrachte, was ihr das einzig Würdevolle auf der ganzen Welt zu sein schien: die Fügung ins Unglück. Dieses Lachen, das furchtbarer war als der Schrei des Aufruhrs, würde noch lange in dieser düsteren Behausung nachhallen. Aufruhr hätte sie vielleicht noch zugelassen, nicht aber Hohn.

Sie zweifelte nicht im geringsten daran, daß alle ihre Opfer vergeblich sein würden; Geld war noch die geringste ihrer Zuwendungen. Sie hatte alles für ihn hergegeben; jetzt konnte sie ihm nur noch ihr nacktes Leben opfern. Warum nahm er nicht ihr Leben? Würde er eines Tages zu ihr kommen, um sie zu ermorden? Sie war bei ihm auf alles gefaßt.

»Eines Tages wirst du mich umbringen«, sagte sie.

»Aber nicht doch, Mutter. Was für ein dramatischer Gedanke! Das Leben ist viel einfacher. Gib mir das Geld, und ich gehe. Das ist alles. Daran ist überhaupt nichts Tragisches, das versichere ich dir. Worin besteht denn da für dich das Drama? Du bist die einzige, die glaubt, daß man die Welt ernst nehmen muß; die Welt ist lustig, Mutter! Du solltest hinausgehen und dich ein wenig amüsieren.«

Sie blickte ihn ohne einen Ausdruck des Erstaunens an, als hätte sie gerade die Worte eines Wahnsinnigen gehört, dessen Spinnereien ihr schon seit langem vertraut waren. Mein Gott, was sollte sie tun! Sie seufzte und erhob sich. Zögernd, wie auf unsichtbare Krücken gestützt, tauchte sie in die Dunkelheit des Zimmers ein, wo ihr zusammengeschrumpfter Körper verschwand. Yeghen erahnte ihre Umrisse nur mit Mühe. Vor der schwarzen Masse der Anrichte blieb sie stehen, öffnete eine Schublade und kramte darin herum.

Yeghen hielt den Atem an. Dieser Augenblick eignete sich zur Ausführung eines von langer Hand vorbereiteten Mordes; eines Mordes allerdings, der zum Lachen war. Wie lange würde sie noch dem Glauben verhaftet bleiben, ihn durch solche pathetischen, von hoher bürgerlicher Moral geprägten Szenen ändern zu können?

Kurze Zeit später kam sie zurück und legte ein Geldstück auf den Tisch.

»Nimm, saug mir das Blut aus!«

Was für eine Tragödin! Wie schade, daß nicht die ganze Welt einer solchen Szene beiwohnen konnte. Ein wahrhaft erbauliches Schauspiel. Der mißratene Sohn, der seine alte Mutter bedrängt! Da wären viele Tränen vergossen worden. Yeghen lachte hämisch, nahm das Geldstück, steckte es in die Tasche und stand auf, um zu gehen.

»Gehab dich wohl, Mutter!«

»Bleib doch wenigstens noch zum Essen«, sagte sie. »Ich habe eine gute Suppe gekocht.«

»Heute abend nicht, Mutter. Ich habe keinen Hunger. Ich verspreche dir aber, ein andermal wiederzukommen und dich in ein vornehmes Restaurant auszuführen. Und danach gehen wir in ein Kabarett. Würdest du nicht gern einmal in ein Kabarett gehen und den Bauchtänzerinnen Zusehen? Du wirst sehen, Mutter, das Leben ist schön.«